5. Die Russen kommen: Das Kriegsende

Erinnerungen meiner Familie:

>>Am Nachmittag des 7. Mai 1945 verdichteten sich die Gerüchte: Die Russen kommen! Was tun? - Meine Großeltern hatten schon Geschichten über das Vorgehen der russischen Soldaten gehört. Auf keinen Fall wollten sie im Ort bleiben. Besonders in Sorge waren sie damals auch um meine Tante, gerade 12 Jahre alt. - Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Haus, man hatte ihn Anfang 1945 mit 15 Jahren noch zum Wehrdienst eingezogen.

Meine Großmutter hatte Verwandte in Grund, so beschloss man, sich dort zu verstecken. Schnell wurde das Nötigste gepackt. Meine Großmutter hatte am Vormittag noch ein Huhn geschlachtet, dieses und andere Lebensmittel wurden in einem Rucksack verstaut. In aller Eile machten sie sich auf den Weg. - Sie wohnten im "Peiskert-Haus", die Strasse nach Grund ging fast am Haus vorbei. So mussten sie nicht durch das Dorf laufen. Auf dem Weg waren sie nicht die Einzigen, Verwandte aus der "Kaserne" kamen mit, auch viele andere verließen nach und nach in dieser Richtung das Dorf. - Von Wüstewaltersdorf nach Grund war es nicht weit, in einer halben Stunde war der Fußmarsch gut zu schaffen.

Gegen Abend kamen sie bei der Verwandten und ihrem Mann, einem Sattlermeister, an. Keine Frage, die Bewohner von Grund nahmen alle, die aus dem Dorf kamen, auf. Auch ihnen war klar, wie gefährlich es werden könnte. - Im Haus waren noch weitere untergekommen, unter anderen der Arzt des Dorfes und sein Bruder, sowie eine Cousine meines Großvaters mit ihrem Sohn und ihrer Mutter. Die Arztfrau und die Tochter des Arztes mit ihren 4 Kindern schliefen im Nachbarhaus, es war nicht genügend Platz für alle. - Zum Entsetzen aller hatte mein Großvater die Armee-Pistole seines Sohnes dabei, der im Jahr zuvor gefallen war. Diese wurde noch schnell unter einem Lederhaufen in der Werkstatt versteckt. Alle waren der Meinung, dass man mit der einen Pistole doch nicht viel ausrichten könnte und wenn man die Waffe bei ihnen finden würde, könnte es erst recht gefährlich werden.
Dem Arzt und seinem Bruder hatte die Sattler-Familie das Schlafzimmer zur Verfügung gestellt, meine Tante und ihr Großcousin wurde auf dem Sofa in der guten Stube untergebracht. Der Rest behalf sich so gut es ging. - Am Abend konnte meine Tante vor Aufregung nicht schlafen, sie kann sich noch gut erinnern, dass der Arzt eine Flasche Rotwein aus seiner Arzttasche zauberte, und sie einen Schuss Rotwein in verquirltem Ei zu trinken bekam. Aber an Schlaf war trotzdem nicht zu denken.

Gegen Morgen um 4 Uhr hämmerte und polterte es dann an die Tür: die Russen waren da! Was würde passieren? - Ein russischer Offizier, der sehr gut deutsch sprach, kam mit einer Karte in der Hand herein. Es wollte eine Bestätigung, dass seine Truppe auf dem richtigen Weg in Richtung tschechische Grenze war. Dieser Trupp sollte sich mit weiteren Einheiten dort treffen und in die Tschechei einmarschieren. - Meine Tante erinnert sich, dass mein Großvater zusammen mit dem Offizier die Karte "studierte" und hinterher erstaunt war, wie gut die Karte war. Jeder Ort, jedes Haus und jede Strasse waren genauestens eingezeichnet. Dieser Offizier informierte sie, dass sie bis zum nächsten morgen um 10 Uhr im Haus bleiben und nicht vorher ins Dorf zurück sollten. Denn dann würde der Waffenstillstand in Kraft treten. Meine Tante hat diesen Offizier noch als höflich in Erinnerung, kein Vergleich zu den wilden Horden, die zur selben Zeit über das Dorf hergefallen sind.

Dieser "Besuch" war nicht der einzige im Laufe des frühen morgens, immer wieder hämmerten russische Soldaten and die Tür und fragten nach dem Weg zur Grenze.
Einmal sprang dann meine Tante aufgeregt auf und zeigte in die Richtung von Wüstegiersdorf. Der russische Soldat nickte, sagte dann aber noch: "Wenn das nicht stimmt, kommen wir zurück und holen Dich!" Der Trupp zog weiter, alle in der Hütte blieben wie zuvor unbehelligt. - Sie hatten einen gehörigen Schrecken bekommen, und meine Tante wurde als vorlaut ausgeschimpft.

Gegen morgen kam dann ganz aufgeregt eine Nachbarin, der Doktor soll ganz schnell zu seiner Frau kommen. Er wusste wohl schon, was es zu bedeuten hatte, hatte er doch das Gift bei seiner Frau gelassen. "Nun muss ich es wohl auch tun", waren seine letzten Worte an die Versammelten und ging ins Nachbarhaus. Kurze Zeit später fand man auch ihn tot auf, wie zuvor seine Frau, und Arzttochter und ihre vier kleinen Kinder. Der Bruder des Arztes machte sich dann bittere Vorwürfe, dass er ihn hat gehen lassen.

Sie brachten die tote Arztfamilie in die Leichenhalle des kleinen Bergfriedhofes von Grund. - Ein paar Tage später ging mein Großvater mit einigen anderen in die Arztwohnung im Dorf, um Teppiche und Decken zu holen, um die Toten darin zu bestatten. An eine Beerdigung mit Särgen war so kurz nach dem Einmarsch der Russen nicht zu denken. Unter großer Anteilnahmen der Wüstewaltersdorfer wurde die Arztfamilie auf dem Friedhof von Grund beigesetzt - was für die Dorfbewohner eine recht gefährliche Angelegenheit war, da sie sich eigentlich in Gruppen nicht treffen durften. Aber sie bleiben unbehelligt.

Zurück zum 8. Mai 45: Gegen Mittag zogen meine Großeltern mit den anderen wieder ins Dorf zurück. Mit Entsetzen mussten sie feststellen, wie dort in der Nacht zuvor gehaust wurde. - Die, die am Abend zuvor nicht aus dem Peiskert-Haus geflüchtet waren, waren aufs übelste misshandelt worden, die Frauen vergewaltigt.

Aber der Schrecken ging weiter. In den folgenden Nächten konnten sie nicht in der Wohnung schlafen. Alle Frauen im Dorf wurden als "Freiwild" betrachtet und waren schutzlos den Übergriffen der Russen ausgeliefert. Auch 12-jährige Mädchen wurden nicht verschont. - Die erste Zeit übernachteten daher meine Großmutter, meine Tante und noch weitere Frauen aus dem Haus im Keller unter der Eingangstreppe. Mein Großvater hatte schwere Schränke davor gestellt, so dass dieses Versteck nicht so leicht zu finden war. - Nach ein paar Wochen beruhigte sich alles etwas, die Russen zogen ab und es kamen die Polen. Die Übergriffe auf die Frauen hörten zwar auf, aber die Schikanen und Plünderungen der Wohnungen gingen weiter. Sich dagegen zu wehren war zwecklos, es gab keine Möglichkeit, dieses zu verhindern. Die Deutschen waren rechtlos, die Polen nahmen alles, was sie gebrauchen konnten oder was ihnen gefiel.

Die Pistole hatte mein Großvater am "morgen danach" aus dem Versteck geholt und im Garten des Sattlermeisters vergraben. Aber auch das schien nicht sicher genug, es könnte ihn jemand gesehen haben und er wollte nicht, dass er und der Sattler Probleme bekommt. Einige Tage später holte er die Pistole aus dem Garten und hatte sie dann bei der russischen Kommandantur abgegeben.

Meine Großeltern hatten insofern "Glück im Unglück", dass mein Großvater noch im Dorf war und er in der Fabrik Arbeit hatte. (Aus gesundheitlichen und Altersgründen wurde er zuvor nicht zum Wehrdienst eingezogen, erst ein paar Tage vor Kriegsende. Aber da wurde er nicht mehr in Marsch gesetzt und wurde recht schnell wieder nach Hause geschickt.). - Als Facharbeiter, mein Großvater war Betriebsschlosser, hatten die Polen schon Interesse, dass er, wie etliche andere, weiter in der Fabrik seiner Arbeit nachging. Dadurch durften sie die kleine Wohnung behalten und bekamen auch Lebensmittel-Zuteilungen.

Eine große Erleichterung gab es im August 1945. Mein Vater kam wieder zurück! Nachdem im Jahr zuvor der älteste Sohn in Russland gefallen war, und man auch noch nichts vom Schicksal des 2. Sohnes gehört hatte, waren meine Großeltern erleichtert, wenigstens ihren Jüngsten wieder zu Hause zu haben.

Am 10. April 1945, mit 15 Jahren, wurde mein Vater noch zum Wehrdienst eingezogen. Im Jahr zuvor wurde er schon mehrfach zum "Schanzen" an der polnischen Grenze in Oberschlesien eingesetzt. Aber jetzt wurden ihnen Waffen gegeben, als letztes Aufgebot, sollten sie ihr Land noch verteidigen. Seine Einheit wurde an die tschechische Grenze versetzt. - Kurz vor Kriegsende hatte er sich dann mit seinem Trupp von der Grenze durch die Tschechei bis Prag durchgeschlagen. Dieses war nicht ganz ungefährlich, marschieren konnten sie nur nachts. Auf der Strecke wurden sie von Partisanen gejagt, einige seiner Kameraden kamen dabei ums Leben. Nur zur Erinnerung, sein Trupp waren Kinder von 14, 15 oder 16 Jahren. - Am 8. Mai, bei Kriegsende war er in Prag. Kurze Zeit später kamen schon die Russen, diese sammelten die deutschen Soldaten ein und schafften sie per Zug nach Dresden. Von dort ging es in einem Fußmarsch durch die zerbombte Stadt in ein russisches Krieggefangenen-Lager östlich von Dresden. Dort verbrachte mein Vater dann 4 Monate. Im August entschied man, die "Kinder wieder nach Hause zur Mama" zu schicken. Am 22.8.1945 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. - Eigentlich hätte er nicht mehr nach Schlesien zurückgedurft, Grenzübertritte von Deutschen in die "polnisch besetzte Zone" waren verboten. Aber mit zwei weiteren Kameraden schlug er sich bis an die Neiße durch und sie überquerten diese schwimmend, nachts in der Nähe von Görlitz. Die Eltern eines der Kameraden wohnten in der Nähe, dort erholte er sich einen Tag. Den Rest des Weges bis Wüstewaltersdorf marschierte er dann allein, meist wieder nachts. Erwischen lassen durfte er sich nicht, er hatte keine Papiere, die ihn berechtigten, bei den "Polen" zu bleiben. - Nach diesem Marsch kam er verdreckt, zerlumpt mit kahlgeschorenem Kopf Ende August wieder in Wüstewaltersdorf an. Es war nachmittags, meine Tante spielte mit ihrer Freundin Luzie vor dem Haus und hätte meinen Vater fast nicht mehr erkannt. "Guck mal, da steht ein Russe hinter den Johannisbeeren", meinte sie. "Aber das ist doch euer Günter" bemerkte dann gleich die Freundin.

Nach der Begrüßung durch meine Großmutter wurde sofort mein Großvater in der Fabrik benachrichtigt. Als er meinen Vater in dem Zustand sah, nahm er ihn sofort in die "Badeanstalt" der Fabrik mit (Räume, die die Fabrikarbeiter zum Duschen und Baden nutzen durften, Badezimmer gab es in den Fabrikwohnungen nicht).
Bis zur Ausreise 1950 blieb dann mein Vater bei der Familie, sein Aufenthalt wurde von meinem Großvater irgendwie legalisiert. Er stand noch in den Papieren meiner Großeltern und hatte auch Entlassungspapiere aus dem Gefangenenlager. <<